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THemA: FAmiLieLebeN


                Familienleben im 20. Jahrhundert




      Anheimelnd empfand ich unser         ihren Beruf einsteigen wollte, gab
      Familienleben, in dem ich viel       es Spannungen, denn mein Vater
      Liebe, Geborgenheit und Ver-         sah sich als alleiniger Ernährer der
      ständnis erfahren habe.              Familie immer noch in der Verant-
         Ich wurde in einer sogenannten    wortung. Später war er stolz auf
      bürgerlichen Familie groß mit Vater,  seine tüchtige berufstätige Frau.
      Mutter und einer Schwester. Zu          Meine schöne Kinder- und
      meiner Familie zählte ich allerdings   Jugendzeit ist auf vielen Fotos fest-
      auch die große Verwandtschaft,       gehalten. Es gibt allerdings auch
      zu der wir ein herzliches Verhält-   Dokumente, die zeigen, dass meine
      nis hatten. Besonders im Hause       Eltern schwere Jahre erlebten, die
      meiner Großeltern, wo zeitweise      ihre Spuren hinterlassen haben. So
      noch drei Generationen lebten,       besitze ich noch den Ariernachweis,
      empfand ich das Miteinander von      den die Eltern vor ihrer Hochzeit
      Jung und Alt aufregend und schön.    vorlegen mussten, den Wehrpass
         Wie in den 1940er Jahren noch     meines Vaters, den Arbeitsnachweis
      üblich, war mein Vater das Fami-     meiner Mutter und Kleiderkarten.
      lienoberhaupt, das allein für unse-     Als Kuriosität aus der Nach-
      ren Unterhalt sorgte. Meine Mutter   kriegszeit hebe ich auch den Rei-    eheliche Leben betreffenden
      kümmerte sich vorwiegend um          sepass meiner Eltern aus dem         Angelegenheiten“ zugestand.
      den Haushalt und um uns Kinder.      Jahre 1955 auf, der noch auf            Nach langwierigen Reformpro-
      Diese Rollenverteilung habe ich      den Passinhaber, meinen Vater,       zessen trat dann am 1. Juli 1957
      niemals hinterfragt, denn meine      ausgestellt ist, begleitet von sei-  das Gesetz der Gleichberechtigung
      Eltern führten ein harmonisches      ner Ehefrau, meiner Mutter. Sie      von Mann und Frau in Kraft. 
      Eheleben. Selbst, wenn mein Vater    konnte damals also noch keinen
      bei wichtigen Entscheidungen das     eigenen Reisepass beantragen,
      letzte Wort hatte, wurden diese      denn es galt in der Nachkriegs-
      doch nie ohne das Einverständnis     zeit im Familienrecht noch das
      meiner Mutter getroffen. Erst als    Gesetz aus der Kaiserzeit, das
      meine Mutter nach einigen Jah-       dem „Mann die Entscheidung
      ren als Nur-Hausfrau wieder in       in allen das gemeinschaftliche                     gudrun Klein





                                                                                          Es blitzt ein

                                                                                     Tropfen Morgentau

                                                                                         im Strahl des


                                                                                         Sonnenlichts;

                                                                                      ein Tag kann eine

                                                                                      Perle sein und ein


                                                                                     Jahrhundert nichts.
                                                                               Foto: Gudrun Klein  gottfried Keller







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