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THemA: FAmiLieNLebeN


                  Aus dem Nähkasten geplaudert




                                              Um diese Holzkugeln rankt sich  Geschäftsmodell ja wohl auch
                                           eine Geschichte, die mir meine       nicht gefährden. So blieben die
                                           Mutter in meiner Jugend erzählte     Holzkugeln von da an geschmack-
                                           und die ich mir bis heute gemerkt    voll holzfarben und passten
                                           habe, vielleicht weil sie mir die    natürlich weitaus besser in die
                                           Einfl ussmöglichkeiten des weibli-   gediegenen Kunstgewerbeläden.
                                           chen Geschlechts in Geschmacks-
                                                                                   Obwohl ich nie eine große
                                          Foto: Martina Oertli  fragen vor Augen führt.  Näherin war – schon das Annähen
                                              Mein Opa war im Renten alter
                                                                                eines verloren gegangenen Knopfes
                                           noch sehr rüstig und stellte deshalb  schiebe ich vor mir her – bin ich
                                           diese Nähkästen für Kunstgewer-      sehr stolz auf meinen Nähkasten,
      Mein Opa war Schreiner, und als      beläden her. In den Anfangszeiten    weil er mich an meinen handwerk-
      ich dreizehn Jahre alt war, bekam    hatte er die besagten Holzknöpfe     lich begabten Großvater erinnert.
      ich von ihm einen Nähkasten          leuchtend rot angepinselt, was          Während es über einige Jahr-
      geschenkt, der heute noch in mei-    meine Oma zu Kritik herausfor-       zehnte üblich war, Nähmaterialien
      nem Besitz ist. Es handelt sich um   derte. Diese stieß jedoch auf taube  in Körbchen oder Blechdosen zu
      ein zweistöckiges Modell, des-       Ohren: „Die Knöpfe bleiben rot!“     verwahren, kommen seit eini-
      sen obere Etage mithilfe seitlicher   Mein Opa empfand diese wohl als  ger Zeit die doppelgeschossigen
      Scharniere auseinandergezogen        chic bzw. als i-Tüpfelchen auf sei-  Holzkästen wieder in Mode.
      werden kann. So habe ich immer       nen naturbelassenen Holzkästen.         Zu stattlichen Preisen kann
      einen guten Überblick über den          Eines Tages bei der Ausliefe-     man sie in Kunstgewerbe-
      Stand meiner Nähutensilien.          rung an ein Geschäft wagte die       geschäften erwerben. 
         Der Nähkasten ist aus massi-      Ladeninhaberin vorsichtig anzu-
      vem hellem Holz gefertigt, der       merken: „Ihre Nähkästen sind ja
      Haltegriff und die Ränder der        wunderschön – aber müssen Sie
      Deckel sind kunstvoll mit dunk-      die Kugeln immer so rot anmalen?“
      lem Holz abgesetzt. Zum Öffnen          Mein Opa war betroffen.
      und Auseinanderziehen sind vier      Ihm gab die zweimalige Kri-
      Holzkugeln als Griffe angebracht.    tik zu denken und er wollte sein                   martina Oertli


                                Familie – wer ist das?




      „Die traditionellen Familien wer-    denen einer der Eltern oder          ein Schock gewesen sein, als
      den immer weniger“, bemerkte         beide schon mal verheiratet          der Engel zu ihm sprach: „Josef,
      eine ältere Dame zu ihrer Nach-      waren, dann die Alleinerzie-         Sohn Davids, fürchte dich nicht,
      barin, „und das ist bedauerlich.“    henden und die Regenbogen-           Maria als deine Frau zu dir zu
      „Was verstehst du unter einer        familien mit zwei Vätern oder        nehmen; denn das Kind, das sie
      traditionellen Familie?“ „Nun        zwei Müttern. Sie alle sind in       erwartet, ist vom Heiligen Geist!“
      ja, Vater und Mutter, verheira-      der modernen Gesellschaft               „Ja, ja,“ schmunzelten die
      tet, und die Kinder – so zwei        nicht mehr wegzudenken.              beiden, „Familie war schon
      oder drei.“ „Da hast du aller-          Übrigens, solche Lebensformen  immer kompliziert.“ 
      dings Recht. Das Bild der Fami-      gab es schon vor über zweitau-
      lie ist heute bunter geworden.“      send Jahren. Denken wir nur an
         Wenn man bedenkt, wie             die wohl bekannteste Familie der
      viele Eltern nicht mehr ver-         Welt, die Heilige Familie. Maria
      heiratet sind – aus welchen          und Josef waren bei der Geburt
      Gründen auch immer – oder            ihres Sohnes auch nicht verhei-
      die Patchwork-Familien, in           ratet. Für Josef muss es sicher                    Werner Zöller

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