Page 6 - Jahresringe 116
P. 6
THeMA: RiTuALe
Immer wieder sonntags …
Da ist zum Beispiel der Sonn- Balkon trete, tief ein- und aus-
tagabend. Tatortzeit. Seit unzäh- atme und dabei meinen Blick
ligen Jahren ein absolutes Muss. über die Wiese und die Bäume
Weder Familie noch Freunde schweifen lasse und dem mun-
würden mich um diese Zeit teren Vogelgezwitscher zuhöre.
anrufen. Es sei denn, es han- Dann erfüllt mich eine tiefe
delte sich um einen Notfall. Ruhe und eine Freude, dass ich
Ein weiteres Ritual ist die diesen Blick genießen darf.
Foto: pexels.com jeden Abend vor dem Schlafen- nene Gewohnheiten haben etwas
Ja, Rituale und liebgewon-
Entspannungsmusik, die ich
gehen höre. Oder mein Kater
Beruhigendes, geben durch ihre
Chico, der morgens, bevor er geregelten Wiederholungen Struk-
Das Thema Rituale veranlasste seinen Kopf in den Fressnapf tur und Form im Alltäglichen.
mich, einmal eine Innenschau steckt, darauf wartet, dass ich Vielleicht auch gerade in Zei-
bei mir durchzuführen. Habe ich ihm übers Fell streichele. ten, in denen es einem nicht gut
Rituale im Alltag, ohne mir Ein besonders schönes Ritual geht, fi nde ich, können Rituale
dessen bewusst zu sein? ist für mich, wenn ich morgens therapeutischen Halt geben.
Oh ja, stellte ich fest. nach dem Aufstehen auf den irene gilcher
Frühstück im Kindergarten
Manche Blicke – so sagt man an manchen Morgen, an dem ich ich die heutige Betonung des
– verfolgen einen ein Leben meine Mutter davon überzeu- Individualismus betrachte, habe
lang. An einen solchen Blick, gen wollte, krank zu sein. Aber ich die Vermutung, dass sie u.
der mir im Alter von vier Jah- sie durchschaute mich natürlich a. auch mit der Aufhebung der
ren zugesandt wurde, kann sofort: „Du willst nur nicht in gemeinsamen Tischzeiten zusam-
ich mich bis heute erinnern. den Kindergarten!“ Manchmal menhängen könnte. Die gemein-
Im Kindergarten hatten wir waren meine Manöver von Erfolg same Mahlzeit erzeugt hingegen
gerade gefrühstückt und ich war gekrönt, oft genug leider nicht. ein Gemeinschaftsgefühl, hebt
noch emsig dabei, die Krümel Wie freudig überrascht war ich bei entsprechender Anleitung
wegzuputzen, die mein „Kalter jedoch, als ich die Frühstücks- die Tischmanieren und fördert
Hund“ hinterlassen hatte, als mich gewohnheiten im Kindergarten natürlich die Kommunikation.
der strafende Blick der Erziehe- meines Sohnes beobachtete: Es Im fortgeschrittenen Alter bin
rin traf, dessen strenge Autorität gab gar keinen gemeinsamen ich eine große Anhängerin der
noch durch ihr dunkles Habit und Frühstückstisch mehr, jedes Kind gemeinsamen Mahlzeiten an
ihre fest unter dem Kinn gebun- konnte sich sein Set und sein einem mit Achtsamkeit gedeckten
dene, weiße Haube unterstrichen Frühstücksgeschirr holen, wenn Tisch – am liebsten mit Kerzen
wurde. Ich fühlte mich ertappt der Hunger kam. Es konnte dann und Blumenschmuck. Diese Ritu-
– warum eigentlich? Dieses unan- in aller Gemütlichkeit frühstü- ale setzen Höhepunkte im Alltag
genehme Gefühl ist mir bis heute cken und im eigenen Tempo und stärken den Zusammenhalt.
präsent. So war es damals: Nur seine Sachen wieder wegräu-
eine halbe Minute im Bezug auf men. Was für ein Fortschritt!
das gemeinschaftliche Vorgehen Keine Reglementierung, keine
in Verzug zu sein, brachte scharfe strafenden Blicke, die einen für
Kritik ein. Wohl auch deshalb den Rest des Lebens verfolgten!
ging ich nicht sehr gerne in den Heute – 25 Jahre später – sehe
Kindergarten. Ich erinnere mich ich es etwas kritischer. Wenn Martina Oertli
6