Page 5 - Jahresringe 3/2019
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THEMA: EINFACH TIERISCH


                    Wie Lamentieren Leben rettet




      Zu Anfang der 50er Jahre hielten
      meine Eltern zwei Ziegen. Damit
      besserten wir unseren Milchbe-
      darf und gelegentlich auch den an
      Fleisch ein wenig auf, denn wenn
      im Frühjahr Zicklein zur Welt
      kamen, wanderte meistens eins
      an Pfingsten in den Bratentopf.
         In diesem Jahr hatten wir
      keine. Mein Vater konnte
      jedoch ein Zicklein von sei-
      nem Arbeitskollegen aus dem
      Nachbardorf erwerben. Dort-
      hin radelte er eines Tages mit
      mir auf dem Gepäckträger.            Foto: pexels.com
         Der Handel um das Zick-
      lein war schnell per Handschlag
      abgeschlossen. Es bekam einen        wir sollten endlich Ruhe geben.      in der Nachbarschaft eine Fami-
      Strick um den Hals und ich durfte  Meine Schwester hatte die              lie ein Zicklein für die Zucht.
      es aus dem Dorf herausführen.        Schwachstelle bei Mutters Ner-       Der Pfingstbraten fiel aus und
      Doch schon bald blieb es plötz-      ven sofort erkannt und so stei-      das Zicklein ist dort eine statt-
      lich stehen, spreizte die klei-      gerten wir das Weinen hin            liche Ziege geworden. 
      nen Vorderbeine und stemmte          bis zu einem lauten Geplärre.
      sie gegen den Boden. Dabei           Das wurde Mutter zu viel. Sie
      meckerte es aus Leibeskräften.       kam in unser Schlafzimmer
      Ich zog am Strick, aber das ver-     und versprach: „Morgen reden
      schlimmerte die Situation nur.       wir noch einmal darüber.“
         Ich zupfte Löwenzahnblät-            Unser Plärren zeigte einen
      ter und hielt sie ihm vor die        großartigen Erfolg. Zufällig suchte                Bernd Schneider
      Nase, jedoch ohne Erfolg.
      Kurz entschlossen nahm mein
      Vater es auf den Arm und ich
      musste das Fahrrad schieben.
         Als wir nach mehreren Ruhe-
      pausen endlich zuhause anka-
      men, lief meine Schwester uns
      entgegen und begrüßte das
        Zicklein mit Streicheln und Drü-
      cken. War das eine Freude – bis
      meine Mutter sagte: „Das wird
      einen schönen Pfingstbraten abge-
      ben!“ Welch ein Schock für uns
      Kinder. Prompt folgte heftiger
      Protest. Wir motzten ununter-
      brochen und verweigerten sogar
      das Abendbrot. Schließlich muss-
      ten wir ins Bett mit der Bemer-
      kung: „Stellt euch nicht so an!“
         Dort fingen wir an zu wei-
      nen, bis unsere Mutter mahnte,

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